Diese Floskeln sollen das Netz beschreiben, sind aber einfach nur daneben. Einige halten nervige Internet-Mythen am Leben. Meine neun größten Aufreger.
1. Cyberspace
Wenn ich mit geschlossenen Augen an „Cyberspace“ denke, sehe ich vor mir Zahlenkolonnen aus Einsen und Nullen, höre Chiptune-Musik und spüre eine faszinierende Bedrohung, wie Alice beim Sturz ins Kaninchenloch. Auch wenn Computer und Smartphones für die meisten längst zum Alltag gehören: Im Wort „Cyberspace“ klingt der Mythos vom Netz als geheime Unterwelt mit, in der jeder Besuch ein Abenteuer ist. Im Alltag öffnet man eine Webseite und liest was. Im Cyberspace „surft“ man eine Webseite an und „erkundet“ sie. Das ist so aufregend wie das Lied vom Computer Man.
2. User
Distanzierter als man mit dem Wort „User“ kann man Leute mit Smartphones kaum beschreiben. „User“, das sind in einer digitalisierten Gesellschaft eigentlich alle. Und doch klingt das Wort für mich nach einer Gruppe von Exoten, die fragwürdige Dinge tun und mit ihren internetfähigen „Devices“ den „Cyberspace“ durchkämmen.
3. So reagiert das Netz
Egal, wie groß der Hype ist: Eine Mehrheit der Nutzer bekommt ihn nicht mit. Das Netz ist zu groß, um als Ganzes auf irgendetwas reagieren zu können. Ähnlich absurd wäre es zu sagen: „So reagiert die Menschheit“. Dahinter steht der Mythos, das Netz sei eine Stimmungsmaschine, und ihre Zeiger könnten in irgendeine Richtung ausschlagen. Selbst Google- und Twitter-Trends sind nur Blicke in Filterblasen. Trotzdem: Artikel mit der Floskel „So reagiert das Netz“ erscheinen ständig. Nach dem Wahlerfolg von Donald Trump beschrieb etwa die Morgenpost verblüffend homogene Reaktionen aus „dem Netz“: Scheinbar alle waren entsetzt. Keine Rede von feiernden Trump-Wählern, die natürlich auch im Netz reagiert haben. Auch der Branchendienst Meedia scheint die Überschrift „So reagiert das Netz“ zu lieben, reduziert „das Netz“ aber meist auf Tweets aus der deutschen Medienbubble.
4. Bot-Armee
Während der US-Wahl war oft die Rede von Donald Trumps Bot-Armee, die im Netz Wahlkampf-Botschaften verbreitet. Aber wie aus Bots eine Armee werden soll, ist mir ein Rätsel. Social Bots sind Programme, die Sachen ins Internet schreiben – eine Armee sind Leute mit Waffen. Das passt nicht wirklich zusammen. Wenn ich an eine Bot-Armee denke, sehe ich vor mir eine Hundertschaft marschierender Roboter mit Blechköpfen, die Maschinenpistolen an die Brust gedrückt.
Wenn Hunderte Bots im Internet Nachrichten über Donald Trump verbreiten, würde ich das eher Bot-Redaktion nennen. Und dann gibt es da noch die Bots, die gekaperte Rechner für DDoS-Attacken benutzen. Die „Welt“ schreibt vom Angriff der Bot-Armee. Sie schicken so viele Anfragen an eine Webseite, bis der Server überlastet und die Webseite nicht mehr erreichbar ist. Doch auch das hat wenig mit einer Armee zu tun, eher mit einem Schwarm nerviger, kleiner Programme. Ein Bot-Schwarm.
5. Datenschützer warnen
Als Innenminister Thomas de Maizière nach dem Anschlag von Berlin mehr Kameras an öffentlichen Plätzen forderte, haben sie wieder gewarnt: die Datenschützer. So wichtig Datenschutz ist, so irreführend ist die Floskel in den Nachrichten. Sie legt nahe, dass einige Nerds um abstrakte Daten bangen, während Kameras konkret Menschen schützen sollen. Dabei geht es Datenschützern genauso um die Sicherheit von Menschen, die durch die Daten überwacht, verfolgt und erpresst werden können.
6. Datensammelwut
Wenn Konzerne massenweise Daten speichern, wird das oft als impulsiv und animalisch beschrieben. Die Rede ist von Datenkraken, Datensammelwut, Datenhunger und Schnüffelattacken. Die Daten werden abgefischt, abeschöpft und abgeschnorchelt. Die Botschaft dahinter: Das muss ja wohl irrational sein!
Ist es aber nicht. Datensammeln ist kein animalischer Wutausbruch, sondern ein rationales Geschäftsmodell. Für solche Daten geben viele Leute gerne Geld aus, etwa Werbetreibende und Betrüger. Im Begriff „Sammelwut“ schwingt die Hoffnung mit, die Konzerne könnten eines Tages doch noch zur Vernunft kommen und damit aufhören. Werden sie nicht.
7. Virtuelle Kontakte
Wenn ein Kind mit seinem Teddy spricht, ist das ein virtueller Kontakt. Der Teddy hört nämlich nicht wirklich zu, seine Antworten muss sich das Kind ausdenken. Freunde auf Facebook und Typen auf Tinder sind keine virtuellen Kontakte, sondern Menschen – außer der Typ auf Tinder ist ein Social Bot. Der Mythos vom virtuellen Kontakt ist der Mythos vom trügerischen Internet, dem man nicht trauen sollte, weil man es nicht anfassen kann. Es ist die abergläubische Gleichsetzung von Haptik und Wahrheit, die wohl auch dafür verantwortlich ist, dass man Eheversprechen mit Ringen besiegelt, Wettkampfsiege mit Pokalen und Erholungsurlaub mit Souvenirs.
8. Sich mit dem Smartphone beschäftigen
Keiner würde sagen: Ein Schriftsteller beschäftigt sich mit seinen Kuli. Er nutzt ihn als Werkzeug zum Schreiben. Das Smartphone ist auch so ein Werkzeug. Wer sich scheinbar „mit dem Smartphone beschäftigt“, liest vielleicht Zeitung, macht seine Steuererklärung, ruft Oma an oder kauft ein Buch.
9. Die Nachrichtenflut
Angeblich überfordert das Internet viele Leute wegen seiner „Nachrichtenflut“. Tatsächlich gehört die Nachrichtenflut genauso zum Netz wie Zombie-Schmink-Tutorials: Wer sie sucht, kann sie haben. Wer sie nicht will, kann sie meiden. Eine „Flut“ ist eine Naturgewalt, die Leute hilflos erleiden müssen. Die vermeintliche „Nachrichtenflut“ im Netz ist ein riesiges Angebot, das Nutzer selbst dosieren können. Der Begriff der „Flut“ schreibt das Problem dem Internet zu, nicht der mangelnden Medienkompetenz der Nutzer.
Es gibt auch jede Menge Orte im Netz, wo nichts los ist. Auf YouTube fönen Leute zum Beispiel zwei Stunden lang ihr Gesicht. Auf wetter.com zeigt eine Live-Webcam 24 Stunden am Tag den Strand von Usedom. Und dann sind die da noch Webseiten, die sich seit den Neunzigern nicht verändert haben. Wer sich das reinzieht und seine Smartphone-Benachrichtungen abstellt, erlebt sogar eine überwältigende Nachrichtenebbe.
Welche Internet-Floskeln regen euch auf? Schreibt sie in die Kommentare! Wenn genug zusammen kommen, gibt’s einen Teil 2.
Foto: Twitter (CC BY 4.0)