Mafia in Kampanien: Die Clan-Kinder von Neapel

In Neapel tötet die Camorra wieder auf offener Straße. Die Mörder sind keine erfahrenen Killer – sie sind Jugendliche und junge Erwachsene. Seit die alten Clan-Bosse verhaftet oder tot sind, bestimmt ein Krieg um Macht und Territorium die Stadt am Vesuv. Dieser Krieg ist rücksichtsloser als bisher.

Als sie Genny Cesarano in einem weißen Sarg aus der Kirche tragen, lassen seine Freunde weiße Luftballons in den Himmel von Neapel steigen. Vor der Kirche San Vincenzo alla Sanità haben sich tausende Menschen versammelt. Sie klatschen und weinen. Viele von ihnen sind Gennys Freunde, Nachbarn, seine Familie, Jugendliche aus der Stadt. „Genny vive“ steht auf weißen Bannern und T-Shirts. Das bedeutet „Genny lebt“.

Aber Genny ist tot. Am Morgen des 6. September 2015 ist der 17-Jährige mit Freunden unterwegs. Sie rauchen, lassen die Nacht an einer Piazza in der Altstadt gemeinsam ausklingen. Um 4:50 Uhr nähern sich ihnen vier oder fünf Mopeds. Die Fahrer schießen auf Genny und seine Freunde. Genny rennt los, will fliehen. Doch eine Kugel bohrt sich durch den Rücken direkt in sein Herz. Er stirbt noch an der Piazza Sanità – nicht weit entfernt von der Kirche, in der fünf Tage später seine Trauerfeier stattfinden wird.

Gennys Mörder gehören zur neuen Generation der Camorra, der Mafia von Kampanien. Die Anti-Mafia-Behörde spricht in ihrem Bericht von der „paranza dei bambini“, sie werden als „Kinder-Gangs“ und „Baby-Killer“ bezeichnet, doch sie töten willkürlicher als ihre Vorgänger. Die Videos ihrer Taten landen auf YouTube, über Facebook vernetzen sich die jungen Gangster. Struktur und Vorgehen der Camorra haben sich mit dem Nachwuchs verändert. Die so genannten „Capi Clan“, die Bosse der camorristischen Familien, sitzen größtenteils im Gefängnis oder sind tot. Nun kämpfen Jugendliche um die Macht in Neapels Vierteln. Sie sind unberechenbar.

Morden auf offener Straße

Der Mord an Genny ist keine Ausnahme. In derselben Nacht ermorden junge Mafiosi den 30-jährigen Antonio Simonetti mit fünf Schüssen. Drei Tage vorher verblutet ein 67-Jähriger an seinen Schussverletzungen. Im Februar sterben Giuseppe Calise (24), Giuseppe Vito (21) und Francesco Esposito (33) innerhalb von 24 Stunden. Die Liste von Menschen, die in den letzten Monaten auf offener Straße ermordet wurden, ist lang. Und sie wird länger. Viele der Opfer sind Mitglieder rivalisierender Banden. Doch es sterben auch völlig Unbeteiligte. Am Silvesterabend töten sechs Jugendliche den 27-jährigen Maikol Giuseppe Russo mit einem Schuss in den Kopf – doch der galt nicht ihm. Im Dezember 2013 schießen junge Camorristi einem Inder in den Brustkorb, sie wollten prüfen, ob die Waffe funktioniert. Sie sind zwischen 16 und 24 Jahre alt, üben das Schießen auf den Dächern der Stadt, fahren mit Rollern und Kalaschnikows durch die Nacht.

Laura Garavini sieht in dieser neuen Form der Brutalität den Versuch, die freien Plätze der Clan-Chefs zu füllen. Die italienische Politikerin setzt sich für die Bekämpfung organisierter Kriminalität ein, im Parlament und als Ehrenvorsitzende der Initiative „Mafia? Nein danke!“. „Sie gehören nicht den alten Strukturen an. Sie halten sich an überhaupt keine Regeln – weder an die des Staates noch an die strukturellen Regeln der Kriminalität selbst.“ Die großen Mafia-Bündnisse ’Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra haben das Töten auf offener Straße zuletzt vermieden. Sie hatten gemerkt, dass es lukrativer für sie war, im Dunkeln zu arbeiten. Bis jetzt. Die jungen Gangster gehen den Schritt zurück in die Vergangenheit.

Kampf um die Kontrolle der Stadtviertel

Es ist die chaotische Struktur der Camorra, die die Lage in Neapel eskalieren lässt. Im Gegensatz zum hierarchischen Aufbau der sizilianischen Cosa Nostra besteht die Camorra aus vielen kleinen Familien-Clans. Der Schriftsteller Claudio Michele Mancini recherchiert seit Jahren über die Mafia in Italien. Er sieht die Ursache der unübersichtlichen Lage in dem fehlenden Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Clans. „Die Banden der Camorra sind autark. Sie teilen sich ihre Stadtteile ein und beherrschen sie. Dabei bekämpfen sie sich zum Teil auch gegenseitig.“ Nach Erkenntnissen der Anti-Mafia-Behörde geht es um 110 Clans, die verschiedene Territorien um den Vesuv beherrschen. Eine Karte der italienischen Zeitung „La Repubblica“ zeigt, wie sich die Gebiete unter den Familien bisher aufteilten. Aber die jungen Mafiosi kämpfen seit Monaten um einzelne Straßen, um einzelne Piazze – um Kontrolle und Macht.

Die Kontrolle des Hoheitsgebietes war wahrscheinlich auch der Grund, warum Genny Cesarano sterben musste. Das Problemviertel Sanità, in dem er getötet wurde, gilt als Treffpunkt für Drogenhandel und kriminelle Geschäfte. Einige Clan-Mitglieder sind hier aufgewachsen. Es geht um die Frage, wer welche Teile der Stadt beherrschen kann. „Sie erschießen ohne Gewissensbisse Leute, die ihnen in die Quere kommen“, sagt Mancini. „Das sind Gangs, die aus dem Armenmilieu kommen. Die Camorra ist ein ungebildeter Haufen.“

Investitionen in die Zukunft der Jugendlichen und die Sicherheit der Stadt

Arbeitslosigkeit, Armut und keine Perspektiven für die Zukunft – das sind häufig die Gründe dafür, dass junge Neapolitaner den kriminellen Weg einschlagen. „Kriminalität ist für sie die einzige Chance, Geld zu verdienen“, erklärt die Politikerin Garavini. „Dafür nutzen sie die gewalttätigsten Methoden.“ Seit 2008 sollen hunderte Soldaten die Stadt sichern. Im Februar entsandte der italienische Innenminister Angelino Alfano 250 weitere Soldaten nach Neapel. Der Bürgermeister Luigi De Magistris fordert Geheimagenten. Die Präsenz des Staates sei wichtig, damit das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung gestärkt werde. „Aber die beste Methode ist, in Bildung und Kultur zu investieren“, sagt Garavini. Die italienische Regierung setzt derzeit beide Maßnahmen ein.

Für Genny kommt das zu spät. Nach seinem Tod kamen Zweifel auf, ob er so unschuldig sei, wie das Weiß auf seinem Sarg, den Ballons und den T-Shirts. Denn er war der Polizei bekannt, ein bewaffneter Raubüberfall ging auf sein Konto. Seine Familie weist die Anschuldigungen entschieden zurück, dass Genny eine Verbindung zur Camorra gehabt habe. Bei seiner Beerdigung protestierten auch der Pfarrer und die Gemeinde gegen den Vorwurf. Genny besuchte die Hotelfachschule, wollte Pizzabäcker werden. Jetzt erinnert ein Olivenbaum vor der Kirche an seinen Tod und das Leben, das er noch vor sich gehabt hätte.

Foto: pixabay (CC0.10)

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One thought on “Mafia in Kampanien: Die Clan-Kinder von Neapel

  1. interessanter Artikel über die mafiösen Zustände in Neapel. Solche Geschichten erreichen uns ja nur selten im täglichen geschehen.

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