Keshin – Prolog

15 Jahre ist es her, seit das Westliche Imperium aus fadenscheinigen Gründen die Republik im Osten angegriffen hat. Mittendrin ist Sinchi Chun, ein treuer Soldat des Khans. Doch bei seinem letzten Auftrag hat er alles verloren: seine Kameraden, seine Ehre. Nun muss er sich vor einem Kriegsgericht verantworten. Der erste Teil unserer Wochenend-Serie.

Prolog

Das triste Grau der hohen Betonhäuser, gemischt mit der farbenfrohen Kleidung der Passanten, ergab ein lustig anzusehendes Schauspiel für den Insassen der vorbeirasenden Limousine. Regentropfen klopften unermüdlich gegen die dunkel getönten Scheiben, als ob sie um Einlass bitten wollten. Der Insasse ignorierte das, genauso wie alles andere. Sein einziger Wunsch bestand darin, diese Sache schnell hinter sich zu bringen und so rasch wie möglich in sein geheiztes und gemütliches Büro zurückzukehren.Das Wetter war kalt – es war schließlich Winteranfang – und die graue Offiziersuniform des Heeres war für derartige Temperaturen nicht gemacht.

Das Innere der Limousine war zwar, dank der eingebauten Heizung, in eine wohltuende Wärme gehüllt, aber ihm graute es bereits bei der Vorstellung, auszusteigen und in die eisige Kälte hinaustreten zu müssen. In der Eile hatte er seinen Mantel vergessen und war so gezwungen, in schlichter Uniform den kurzen Weg bis ins Gerichtsgebäude zurückzulegen.

Das drückte seine Laune. Er verfluchte die Kälte, er verfluchte seine Vergesslichkeit und vor allem verfluchte er den angeklagten Soldaten, wegen dem er nun all diese Strapazen auf sich nehmen musste.

Natürlich würde er so etwas nie laut aussprechen. Nicht im Traum würde es ihm einfallen. Er war ein Noyan des Khans und solche Nörgeleien und Beschwerden gehörten sich nicht für einen Mann in seiner Position.

Dennoch konnte er sich solche Gedanken nicht verkneifen. Für gewöhnlich pflegte er, morgens um neun Uhr aufzustehen, reichhaltig zu frühstücken und sich über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Dann zog er sich in sein beheiztes Büro zurück, nahm in seinem kuscheligen Sessel Platz und ging den Arbeiten nach, die ein Mann seines Standes zu erfüllen hatte. Eine Abweichung von diesem Tagesplan passte ihm gar nicht.

De schwarze Limousine kam zum Stehen. „Wir sind da, Herr Noyan“, sagte sein Chauffeur. Er nickte, seufzte leise. Und wollte aussteigen, aber zögerte: Der Boden war nass. Er verzog angewidert das Gesicht. Das Wasser würde seine teuren Schuhe beschädigen und seine schicke Uniform durchnässen. Vermutlich würde er sich sogar noch eine Erkältung holen.

Ein jähes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken: Sein Chauffeur hatte ihm einen Schirm aufgespannt und streckte ihn mit freundlich lächelnden Gesicht in seine Richtung. Er verzog keine Miene, nickte dankend, trat aus dem Wagen und den Schirm entgegen. Dann schritt er eilig in Richtung Eingang des Gerichtsgebäudes.

„Guten Morgen, Herr Noyan“, sagte der Portier, während er ihm die Tür aufhielt. „Lassen Sie mich Ihnen den Regenschirm abnehmen.“

Er bemühte sich um ein Lächeln und reichte dem Mann wortlos den Schirm. Dann atmete er erleichtert auf. Die Kälte hatte er hinter sich gelassen und eine angenehme Wärme umgab ihn. Seine Augen nutzen den Augenblick, um die Umgebung zu analysieren: Er befand sich in einer großen, weiten Halle, deren hohe Decke durch Säulen vor dem Einsturz bewahrt wurde. Der Boden bestand aus Marmor und an den Seitenwänden waren riesige Teppiche aus dem Osten des Imperiums ausgehängt, die mit ihren Kriegsdarstellungen das Herz jedes Patrioten höherschlagen ließen. Im ganzen Raum waren bewaffnete Soldaten verteilt, die mit ihren hellgrauen Uniformen und Sturmgewehren ein perfektes Bild der imperialen Schlagkraft und Militärtradition repräsentierten. Am anderen Ende wartete jemand auf ihn. Ein anderer Noyan namens Grarig und der Vorsitzende bei der heutigen Gerichtsverhandlung. Auch dieser trug eine graue Offiziersuniform und hielt seine Offizierskappe in den Händen. Mit einem Lächeln auf den Lippen, aber ungeduldigen Augen, blickte Grarig in seine Richtung.

„Freut mich Sie zu sehen, Noyan Grarig“, grüßte er dem Protokoll entsprechend.

„Freut mich ebenfalls Noyan Karbrer“, gab Grarig knapp zurück. „Schön, dass Sie kommen konnten. Lassen Sie uns keine weitere Zeit verlieren.“

Er nickte und sie gingen los.

Grarig führte ihn durch einen langen Gang vorbei an verschiedene große Holztüren, an weiteren Wandteppichen und grimmig dreinschauenden Wachsoldaten mit ihren Gewehren im Anschlag. Ihr Ziel war ein kleines Zimmer mit fünf weiteren Noyad und einem runden Holztisch, in dessen Mitte eine Kanne mit dunklem und wohlriechendem Kaffee abgestellt war. Seine Augen gierten nach dem schwarzen Getränk, aber er wusste, dass dafür keine Zeit war. Grarig stellte ihm schnell die anderen Noyad vor. Einem nach dem anderen gab er die Hand und kurze Grußworte zurück, während sie sich alle bei ihm ob seines Kommens bedankten.

„Es ist gut, dass Sie so kurzfristig noch Zeit gefunden haben“, sagte der Noyan Pariyeg. „Schrecklich, die Sache mit Harler“, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf.

Harler war der Noyan, an dessen Stelle er hergerufen worden war. Harler war hoch angesehen und weise gewesen, aber auch sehr alt. Es war keine Überraschung, als er heute Morgen von seinen Bediensteten tot im Bett aufgefunden worden war.

Dennoch wünschte er sich, Harler hätte wenigstens einen weiteren Tag überlebt. Dann wäre er nun in seinem warmen, kuscheligen Bett.

„Hier ist die Akte“, sagte Grarig, der hinzugetreten war. „Lesen Sie sie während des Prozesses durch. Am Ende fällen wir gemeinsam das Urteil. Das dürfte nicht so schwer werden.“

Karbrer nickte. Mit dem Ableben Harlers war er nun Teil des Kriegsgerichts, das über das Schicksal des angeklagten Soldaten entschied. Ein Keshinmitglied namens Sinchi Chun, dem Versagen an der Front zur Last gelegt wurde. Soviel wusste er. Das Schicksal des Mannes mussten sie noch entscheiden: entweder lebenslänglich oder Erschießungskommando. Karbrer würde die Akte während der Verhandlung überfliegen. Er folgte den anderen Noyad in den Gerichtssaal und nahm hinter dem Richtertisch Platz.

Der Mann, der von zwei Wächtern wenige Minuten später hereingeführt wurde, gab eine imposante Gestalt ab. Er war größer als der Durchschnitt, sein Kopf war hoch erhoben und er blickte selbstbewusst und entschlossen zu den Richtern. Chun trug die dunkelgraue Uniform eines Keshins mit der üblichen grün-schwarzen Armbinde am rechten Ärmel: „51“ war die Zahl.

Dunkel war auch die Farbe seiner Haut. Allerdings nicht zu dunkel, vermutlich stammte er aus der südlichen Gebirgskette. Laut der Akte war der Mann 34 Jahre, bei genauerer Betrachtung wirkte er aber zehn Jahre älter – mindestens. Chun an sich war sauber, sein Gesicht war aber leicht eingefallen und von Kratzern und Schnitten übersät. Manche von diesen würden verheilen, andere hässliche Narben hinterlassen. Seine leuchtend braunen Augen zeigten jedoch den Stolz und die Selbstsicherheit. Dieser Mann schien in der letzten Zeit viel durchgemacht zu haben, das hatte ihn anscheinend aber nur gestärkt.

Chun schien interessant zu sein. Auch wenn die Verhandlung an sich sicher langweilig verlaufen würde, nutzte der Noyan die Zeit, um schnell einen genaueren Einblick von der Person des Angeklagten zu bekommen:

„Chun trat mit 19 Jahren dem imperialen Heer bei und zeigte sofort Talent im Gebrauch mit der Waffe sowie schnelle Reflexe und ein gutes Urteilsvermögen. Chun ist sehr charismatisch und hatte nie Probleme mit Vorgesetzten oder Kameraden. Auch war er in Ausnahmesituationen immer in der Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen. Trotz dieser positiven Merkmale hatte Chun öfters damit Probleme, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Den Tod von Kameraden nahm er sich ungewöhnlich lange zu Herzen, er schob die Schuld nicht selten auf sich. Aufgrund dieser Eigenschaften sollte Chun im Heer nie über den Rang eines Oberstabsgefreiten hinausbefördert werden.

Im Alter von 33 Jahren meldete sich Chun freiwillig für den Dienst in einem Keshin und wurde wenig später auch in das 51. Keshin unter der Leitung von Arban Jakob von Haberfeste versetzt. Chun erreichte dort den üblichen Rang eines Leutnants und war gleichzeitig Cherbí des 51. Keshins“.

Karbrer las den Text, während einer der Noyad die Anklagepunkte aufzählte. Die Hauptvorwürfe:

Verrat an Khan, Volk und Vaterland, Versagen bei einem Auftrag des Khans und Ausfall des Keshins aufgrund von mangelnden Führungsfähigkeiten.

Das allein reichte aus, um diesen Mann vor das Erschießungskommando zu bringen. Karbrer war das recht egal, er blätterte zur nächsten Seite und warf einen Blick auf den Rest der Akte. Dort stand mehr über Chuns Rolle als Cherbí des 51. Keshins. Dieses Keshin gehörte zur neuen Generation, war ein Jahr lang aktiv gewesen und hatte aus acht Mitgliedern bestanden. Von diesen waren während des letzten Auftrags fünf gefallen, darunter auch der Arban, Jakob von Haberfeste. Dieser Name kam ihm bekannt vor, aber er hatte jetzt kein großes Interesse, weiter darüber nachzudenken. Als verbliebener Anführer wurde Chun für das Versagen verantwortlich gemacht. Es kam schon vor, dass ein Mitglied eines Keshins starb und ersetzt werden musste, aber der Tod von mehr als 50 Prozent der Einheit war noch nie der Fall gewesen. Zusätzlich dazu hatten sie nicht einmal ihren letzten Auftrag erfolgreich abschließen können, was die ganze Sache nur noch schlimmer machte.

„Wegen Ihrer Handlungen und mangelnder Führungsqualität haben Sie nicht nur das Leben Ihrer Männer auf dem Gewissen, sondern haben auch noch Khan, Volk und Vaterland in ernste Gefahr gebracht. Was haben Sie zur Ihrer Verteidigung zu sagen?“, Grarig hatte die Frage eigentlich nur aus Gewohnheit gestellt. Niemand hatte mit einer ernsthaften Antwort gerechnet. Umso mehr überraschte es alle Anwesenden, als Chun sich erhob und begann zu erzählen. Er erzählte davon, dass ihre Ausrüstung schlecht und die gegebenen Informationen mangelhaft gewesen waren. Von der nicht vorhandenen Hilfe durch das Oberkommando und der Unmöglichkeit der Erfüllung der Aufgabe. Dann begann er von den Strapazen zu erzählen, die sie durchgemacht hatten. Er erzählte von einer Bunkeranlage, geheimnisvollen Experimenten und wichtigen Daten, von denen der Noyan noch nie gehört hatte. Von einem republikanischen Gefangenenkomplex, den sie erfolgreich ausgehoben hatten, vom Tod seiner Kameraden und ihrer Rolle bei der gefallenen Stadt Tirluna. Dann erzählte er noch von Verrat und Enttäuschung und wie sie letztendlich doch noch die republikanische Anlage zerstört hatten.

Karbrer hörte nur mit einem Ohr zu. Es spielte auch keine Rolle, was dieser Mann erzählte. Fakt war, dass fast seine gesamte Einheit gefallen war und das reichte mehr als aus, um ihn zu verurteilen. Erfolglos unterdrückte er ein Gähnen.

Als Chun fertig war, schüttelten alle Noyad den Kopf. „Ihre Darstellungen klingen zwar recht plausibel, aber das ändert nichts an Ihrer derzeitigen Lage“, sprach Grarig. Dann befahl er den beiden Wächtern Chun wieder herauszuführen, während die Noyad ein Urteil fällten.

Grarig blickte zu den anderen Noyad: „Meine Herren, Sie haben die Akte gelesen und auch alles gehört. Noyan Karbrer, Sie haben uns freundlicherweise wortwörtlich im letzten Augenblick ausgeholfen. Haben Sie noch eine Frage zum Angeklagten oder dem Prozess?“

„Nein, Herr Noyan. Ich glaube, wir werden uns in diesem Fall alle einig sein.“

Grarig nickte: „Dann stimmen wir ab. Wer plädiert für schuldig?“

Uniso gingen sieben Hände in die Höhe. Karbrer lächelte. Wie hätte es auch anders sein sollen? Schon bald würde er wieder in seinem Büro sitzen.

„Ausgezeichnet“, sagte Grarig. „Nun stimmen wir über die Art der Bestrafung ab.“

„Eindeutig Erschießungskommando“, warf Karbrer ein. Was sollte es auch anderes sein. Der Mann war eine Schande für den Khan und das tapfere imperiale Militär. Es galt, ein Exempel zu statuieren. Ein paar Noyad nickten.

„Normalerweise würde ich zustimmen“, sagte Grarig zu Karbrers Verwunderung. „Aber ich glaube, in diesem Fall sollten wir den Angeklagten noch am Leben lassen. Er konnte sich uns noch als nützlich erweisen …“

Als Grarig Chun das Urteil vorlas, konnte Karbrer die Erleichterung, aber auch Überraschung in seinen Augen deutlich ablesen. Karbrer konnte es das nachvollziehen, denn für Chun musste die Bestrafung absolut lächerlich klingen: Er sollte weder eingesperrt noch exekutiert werden. Stattdessen wurde er zum Gefreiten degradiert und an die Front geschickt. An die neu geschaffene Front, entlang der westlichen Küste des Reiches. Fern von der Grenze zur Republik – ihrem einzigen und langjährigen Feind. Es war eine Front, an der es unmöglich zu einem Feindkontakt kommen konnte.

Chun wusste nicht, dass dieses Urteil seinen sicheren Tod bedeutete.

Zeichnung: Patrick Schürch. Weitere Bilder auf DeviantArt

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Ali Vahid Roodsari
Ali Roodsari nennt sich manchmal auch Rod Sherry, erzählt gerne Geschichten und hätte gerne mehr Zeit zum Lesen. Ist auch auf Twitter unterwegs: @AliRoodsari.

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