Die Terrorangst ist einprogrammiert

In den Stunden der Ungewissheit zeigen die Münchner Solidarität. Der Großeinsatz der Polizei und die vielen Falschmeldungen erzeugen Panik. Eine Stadt steht Kopf, aber öffnet ihre Türen.

Die Polizei ruft via Twitter die Bevölkerung dazu auf, öffentliche Plätze zu meiden. Der Nahverkehr wird komplett eingestellt. Der Stachus gilt Gerüchten zufolge als Terrorschauplatz. Am 22. Juli macht sich in München Panik breit. Die Menschen wissen nicht, wohin. Ein organisierter Terroranschlag auf die bayerische Landeshauptstadt scheint ein realistisches Szenario zu sein.

In dieser unübersichtlichen Situation erreichen die Polizei Meldungen über Schüsse an verschiedenen Orten in der Innenstadt. Die Polizeikräfte rücken in die Fußgängerzone vor. Sie sind schwer bewaffnet, zum Teil vermummt und bewegen sich in mehreren Zügen von Geschäft zu Geschäft. In einer panischen Reaktion auf die Gerüchte und das Vorgehen der Polizisten gibt es Tumulte am Stachus.

Auch im touristischen Zentrum Münchens, dem Hofbräuhaus, kommt es zu einer Massenpanik. Die Menschen versuchen verzweifelt aus dem Gebäude zu kommen und schlagen sogar mit Maßkrügen eine Scheibe ein, um über das Fenster zu fliehen. Offenbar hat sich einer der Gäste an dem zerbrochenen Glas geschnitten, es klebt Blut an der Fassade. Ein Musiker der Liveband hat keine Schüsse gehört: „Plötzlich sind Stühle und Tische geflogen und jeder wollte raus.“

Zerbrochene Scheibe im Hofbräuhaus. Foto: Christoph Kürbel
Zerbrochene Scheibe im Hofbräuhaus. Foto: Christoph Kürbel

In diesen Stunden der völligen Ungewissheit herrscht blanke Angst. Die Angst, es könnte jederzeit und überall geschossen werden. Die Angst, gefangen zu sein, denn aus der Stadt kommt man nur zu Fuß. Die Videos, die im Netz kursieren, heizen die Stimmung weiter an.

Mittlerweile haben auch die Taxifahrer Anweisungen bekommen: Sie sollen den Bereich um den Stachus weiträumig meiden und keine Einsteiger mitnehmen.

Währenddessen sitzt die Studentin Julia Viegener mit ihren Kommilitonen in einem Taxi, das sie vom Münchner Osten in die Nähe des Olympiaparks bringen soll. Der Fahrer will sie anfangs noch sicher nach Hause bringen. Doch dann entbrennt eine hitzige Diskussion über die Gefahr, in die sie alle Fahrgäste mit ihrem Wunschziel bringt. Nachdem eine Kolonne von sechs Krankenwagen an ihnen vorbeifährt, weigert sich der Taxifahrer, weiterzufahren. An der Donnersbergerbrücke steigen die Studenten aus. Julia übernachtet bei ihrer Kommilitonin.

Der vierundzwanzigjährige Deniz Gürcan bekommt zeitgleich eine Nachricht von seiner Mutter. Sie ist mit seiner Schwester im Galeria Kaufhof am Stachus. Sie haben Angst und wollen weg. Schon auf seinem Weg in die Stadt bemerkt Deniz unzählige Menschen, die wegrennen oder sich in Hauseingängen und Restaurants verschanzen. Er hat mitbekommen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr fahren und dass auch die Taxis niemanden mehr mitnehmen. Er merkt sofort, dass er was tun kann und bietet bei Facebook an, Leute aus der Innenstadt zu fahren. Ab da steht sein Telefon nicht mehr still. Er nimmt auch große Gruppen mit, einige müssen sogar in den Kofferraum. „Alle waren richtig erschöpft und die ganzen Spekulationen haben die Leute noch fertiger gemacht,“ sagt Deniz. Er fährt die ganze Nacht und bringt insgesamt über dreißig Leute sicher nach Hause. Viele sitzen völlig aufgelöst bei ihm im Auto. „Ich habe extra das Radio ausgemacht, damit die Leute nicht noch unruhiger werden.“

Die Stadt ist im Ausnahmezustand und die Menschen, die nicht wie Deniz unterwegs sind, um Leuten zu helfen, zeigen ihre Solidarität in den sozialen Netzwerken. Über Twitter und Facebook bieten unzählige Münchner unter dem Hashtag #offenetuer den Schutz ihrer Wohnungen an. Die Polizei hat die Bevölkerung mittlerweile aufgefordert von den Straßen zu gehen und sich in Häuser und Wohnungen in Sicherheit zu bringen. Da aber keiner weiß, wie er nach Hause kommen soll, sind auch am Stachus, für den es mittlerweile Entwarnung gibt, immer noch viele Menschen unterwegs.

Die Solidarität auf Twitter mit dem Hashtag #offenetuer ist zwar riesig und hilft auch vielen, von der Straße zu kommen, aber gerade das Hauptbahnhofsviertel ist immer noch voller Menschen.
Es sind vor allem Flüchtlinge und Obdachlose, die #offenetuer nicht erreicht. Es regnet stark und die Menschen suchen Schutz unter den Baugerüsten gegenüber vom Haupteingang des Bahnhofs. Keiner kommt hier weg, seien es gestrandete Reisende oder Flüchtlinge, deren Unterkünfte meist außerhalb der Stadt liegen. Der Hauptbahnhof wurde komplett geräumt und von der Polizei abgeriegelt. Jeder sucht sich einen trockenen Platz, viele starren in ihr Smartphone in der Hoffnung, irgendwelche Informationen zu bekommen. Ein paar Jungs müssen zum Scheidplatz im Norden der Stadt, weil sie dort bei einem Freund übernachten können. Sie fragen, wie sie da hinkommen, doch ihre Situation ist aussichtslos.

Nach einer scheinbar endlosen Nacht, in der die Polizei die ganze Stadt durchkämmt, gibt es endlich Entwarnung. Die Polizei vermeldet den Fund einer Leiche, die sie als den einzigen Amokläufer ausmachen kann. Die Münchner Verkehrsgesellschaft nimmt ihren Betrieb wieder auf. Die Taxischilder leuchten wieder und nach der Pressekonferenz beruhigt sich eine Stadt im absoluten Chaos. Was bleibt, ist ein grausamer Amoklauf und große Trauer. Aber auch die Erkenntnis, wie tief die Angst vor Terror den Menschen in den Knochen sitzt. Alle gingen vom Schlimmsten aus.

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