90 Tage gegen die Hungersnot

Ein italienisches Institut holt afrikanische Wissenschaftlerinnen nach Deutschland, damit sie in Hightech-Laboren ihre Forschung vorantreiben können. Lucie Aba-Toumnou ist eine von ihnen. Sie sucht ein Mittel gegen den Hunger.

Mit Baumrinde im Koffer fliegt Lucie Aba-Toumnou im Frühling 2016 nach Berlin. Zwischen der Kleidung der Biochemikerin aus Zentralafrika liegen, eingewickelt in Plastikfolie, Tütchen mit Rindenmehl. Sie stammen von einer Pflanze namens „Drypetes gossweileri“. Der grün-braune Staub ist möglicherweise von großem Wert: Er könnte in Aba-Toumnous Heimat viele Leben retten, vielleicht Millionen.

Denn in Zentralafrika herrscht Hunger. Ein Grund dafür sind Schädlinge, die sich in den Getreidesilos einnisten und dort ganze Ernten zunichtemachen. Lucie Aba-Toumnou ist sich sicher: Die Rindenproben in ihrem Koffer enthalten einen Stoff, der diese Schädlinge abhält. Denn manche Bauern im ländlichen Senegal verwenden das Mehl der Rinde bereits, um Schädlinge abzuhalten. Es funktioniert, nur weiß keiner, warum. Die 38-Jährige will das erforschen. Und dann auf Grundlage der Drypetes ein massentaugliches Mittel gegen Schädlinge entwickeln, um damit dem Hunger ein Ende zu setzen. Sie muss nur herausfinden: Welcher Stoff macht die Rinde so wertvoll?

Einige Jahre zuvor sitzt Lucie Aba-Toumnou als Studentin im Hörsaal der Université de Bangui. Bangui ist die Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik. Sie ist von Straßen aus rotem Sand durchzogen, von oben sieht das aus wie ein Raster. In der Regenzeit schwemmt ein Nebenfluss des Kongo den Sand auf. Die Université de Bangui ist ein kleiner, dreistöckiger Bau, kaum größer als ein Einfamilienhaus. Frauen gibt es dort fast keine. „Frauen machen bei uns die Hausarbeit, das sagen ihnen ihre Männer“, sagt Aba-Toumnou. „Männer führen sich bei uns auf wie Könige.“

Sie selbst jedoch macht keine Hausarbeit. Sie studiert. Jeden Morgen geht Aba-Toumnou in die kleinen Hörsäle. Ihre drei Töchter sitzen derweil zu Hause abwechselnd auf Omas Schoß, oft schreien sie nach ihrer Mama. Aba-Toumnou weiß, dass sie in die Uni muss. Ihr Ehemann hält sie für verrückt — er ist Feldarbeiter und will, dass seine Frau zu Hause bleibt: „Halte doch bitte die Wohnung rein“, schimpft er, „kümmere dich um unsere Kinder, bitte.“ Aber Aba-Toumnou bleibt hart. Sie geht weiter zur Uni, will ihren Abschluss. „Ich bin eine couragierte Frau“, betont sie.

Irgendwann reicht es ihrer Mutter: Sie schmeißt den klagenden Ehemann aus dem Haus. Als er davonläuft, schreit sie ihm hinterher: „Verschwinde, unsere Doktorin muss in die Schule!“ Mit „Doktorin“ meint sie ihre Tochter Lucie. Noch im selben Jahr promoviert Lucie an der Université de Bangui in Biochemie. Ihr Thema: „Heilpflanzen der ländlichen Regionen Senegals“. Es geht um natürlich vorkommende Heilmittel, die gegen Krankheiten in Subsahara-Afrika helfen: Malaria, Hepatitis, Aids. Aba-Toumnou glaubt, dass manchmal grüne Blätter reichen, um gegen die großen Bedrohungen in ihrer Heimat anzukämpfen.

Dann kommt der Krieg. Eine Rebellengruppe erobert mit Maschinenpistolen die zentralafrikanische Hauptstadt Bangui. Kurz vor ihrer Promotion scheint die Heimat der Forscherin wegzubröseln wie trockener Sand. Sie flieht mit ihrer Familie in den Senegal, macht dort ihren Doktor. Es ist das Land der hohen Mahagonibäume, wo tiefgrüne Myrtesträucher blühen und Pfeffer wächst. Alles Pflanzen, mit denen Aba-Toumnou zufolge Krankheiten geheilt werden könnten. So steht es in ihrer Doktorarbeit. Und es sind Krankheiten, denen das zentralafrikanische Gesundheitssystem längst nicht mehr gewachsen ist. Die WHO geht davon aus, dass mehr als zehn Prozent der Bevölkerung an Aids erkrankt ist. Andere haben Lepra oder die Schlafkrankheit.

Aba-Toumnous Doktorarbeit über die Heilpflanzen sorgt für Aufsehen. Die Kräfte der Pflanzen kennen manchmal nur die Bewohner der dünn besiedelten, ländlichen Regionen des Senegals. Die Biochemikerin erhält Einladungen von Forschungseinrichtungen aus der ganzen Welt. Sie will zwar nicht weg aus ihrer Heimat, doch sie weiß: Ohne ein ordentlich ausgestattetes Labor wird sie den natürlichen Heilstoffen nie näherkommen. Ein solches Labor gibt es im Senegal aber nicht.

Mithilfe des Deutschen Akademischen Austauschdiensts reist die Wissenschaftlerin 2014 zum ersten Mal nach Berlin. Aber es geht ihr nicht mehr um Heilpflanzen. Eine neue Bedrohung greift um sich, vielleicht schlimmer als die Krankheiten: Hunger. Der Krieg dauert jetzt ein Jahr, viele Zentralafrikaner sind aus ihrem Land geflohen. Die Gebliebenen werden Teil einer schrecklichen Statistik: Die Zentralafrikanische Republik führt plötzlich den Welthunger-Index an. Mit 1,5 Millionen Menschen hat gut ein Drittel der Bevölkerung nicht genug zu essen.

Lucie Aba-Toumnou erlebt mit, wie der Hunger ihr Land erfasst. Sie sucht sich eine andere Pflanze. Anstelle von Mahagoni, Pfeffer und Myrte erforscht sie jetzt einen bis zu 30 Meter hohen Baum: den „Drypetes gossweileri“. Der Baum wird im subsaharischen Afrika bereits vielseitig eingesetzt. Die Blätter helfen gegen Asthma, der Saft seiner Wurzeln versiegelt tiefe Wunden. Aba-Toumnou interessiert sich für die Rinde. Wenn man sie einschneidet, entweicht ein beißender Gestank, der an Meerrettich erinnert. Fischersleute im tropischen Afrika geben sie als feine Späne ins Wasser, um den Fang zu betäuben. Aba-Toumnou möchte das Rindenmehl gegen jene Insekten einsetzen, die die Ernten Zentralafrikas bedrohen.

Währenddessen wird der Kampf gegen den Hunger im südlichen Afrika härter. Die Bauern wehren sich mit giftigen Spritzmitteln und werden davon krank. Die Getreidesilos von Zentralafrika sind entweder voller Schädlinge oder leer. Menschen verhungern. Die Biochemikerin Lucie Aba-Toumnou glaubt: Mit der natürlichen Wirkung aus der Rinde ihres Baumes könnte sie die Ernten ihrer Heimat beschützen und Leben retten.

4600 Kilometer nördlich von den roten Standstraßen in Bangui, umgeben von dichten Pinienwäldern, blickt Edward Lempinen aus seinem Bürofenster im italienischen Triest. „Triest ist die Schnittstelle zwischen Alpen und Balkan, zwischen Orient und Okzident, wenn man so will“, sagt er und zeigt dorthin, wo dichter Nebel die Berge verdeckt. Der Amerikaner arbeitet für die „World Academy of Sciences“ und setzt sich für Wissenschaftler aus Entwicklungsländern ein. Sein Institut hilft, wenn Forscherinnen wie Lucie Aba-Toumnou nach Deutschland reisen wollen, um dort für ihre Heimat zu forschen. „Besonders Frauen sind angehalten, sich bei uns zu bewerben“, sagt Lempinen. „Dank unserem Institut ist Triest eine Hauptstadt geworden, für Frauen in der Wissenschaft.“

Die „World Academy“ organisiert seit 2010 mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Austausch: Jedes Jahr dürfen 30 Doktorinnen und Doktoren aus subsaharischen Ländern an einem deutschen Institut forschen. Ab 2017 sind es 50. Mehr als hundert Bewerbungen gab es zuletzt. Frauen werden bevorzugt bewertet. In der Bewerbung soll ein konkretes Projekt vorgestellt werden. Daran dürfen die Auserwählten dann drei Monate lang an einem deutschen Institut forschen. Die Zeit ist kurz, das weiß auch Lempinen: „Der Druck ist immens, die Forscherinnen müssen sich extrem gut vorbereiten.“ Aber in seinen Augen sind Experten aus Schwellenländern viel wertvoller als jede Delegation westeuropäischer Wissenschaftler. „Diese Forscherinnen tragen eine persönliche Motivation in sich, wenn sie Probleme bekämpfen, unter denen sie und ihre Familien zu Hause leiden.“

In den Jahren nach ihrem Austausch kehren sie oft ans Triester Institut zurück. Edward Lempinen erzählt von einer Uganderin, die über die psychischen Folgen einer HIV-Infektion forschte. Mittlerweile hält sie die ersten Aids-Gruppentherapien in der Geschichte ihres Landes ab. Eine andere Forscherin entwickelte ein Intim-Gel, das die HIV-Übertragung beim Geschlechtsverkehr verhindern soll. Der Besuch in Triest, erklärt Lempinen, sei oft nur der letzte Schritt einer umfassenden Arbeit: „Diesen Wissenschaftlerinnen fehlt manchmal nur eine bestimmte Chemikalie oder ein bestimmtes Instrument. Das bekommen sie in Deutschland – und kehren zurück.“

Dass die Wissenschaftlerinnen zurückkehren, um ihr Projekt umzusetzen, ist auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft wichtig. Es ist sogar vertraglich festgelegt. „Eine Frau, die in einem Land wie Ruanda, Sudan oder Zentralafrika habilitiert hat, ist schon einen unfassbaren Weg gegangen“, erklärt Gisela Albus, die den Austausch von deutscher Seite aus koordiniert. „Wir dürfen diese Schätze nicht auch noch wie alle anderen Schätze aus diesem Kontinent herausholen.“ Albus betreut die Projekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf dem afrikanischen Kontinent. Und sie ist enttäuscht über die europäische Arroganz. 2015 etwa bekam die Chinesin Tu Youyou den Nobelpreis für Medizin. Sie hatte ein Malaria-Mittel erforscht, das in Afrika schon seit tausenden Jahren bekannt ist. Bekannt? „Naja“, sagt Albus. „Die Zentralafrikaner kennen das schon lange, es hat ihnen bloß nie jemand geglaubt.“

Ende 2015 erfährt die Biochemikerin Lucie Aba-Toumnou: Sie darf ein zweites Mal nach Deutschland. Im Frühling 2016 beginnt ihr Austausch, dieses Mal mit dem deutsch-italienischen Programm. Sie zieht mit einigen senegalischen Bauern los, sammelt mit ihnen Rinde, trocknet sie und stellt das Mehl her. Damit fliegt sie nach Berlin. In den Hightech-Laboren der Humboldt-Universität unterzieht Aba-Toumnou das Rindenmehl chemischen Tests. „Es geht darum, herauszufinden, welchen Stoff aus der Rinde die Schädlinge nicht mögen“, erklärt sie.

Während ihrer ersten Deutschlandreise konnte sie aus 48 Pflanzen-Gattungen 4 ermitteln, die besonders wirksam sind. Nun hat sie in den Laboren der Humboldt-Universität drei Monate Zeit für die Suche nach dem Wirkstoff. Vielleicht noch ein paar Jahre, schätzt sie, dann könnte man daraus ein natürliches Insektizid produzieren. Doch es gibt noch immer den Krieg. Lucie Aba-Toumnou wünscht sich Frieden und ein fertiges Mittel. Dann will sie zurück nach Bangui, in die Stadt mit dem roten Sand, und den Hunger besiegen.

Illustration: Lotte Düx

Hier gibt es das ganze Buch: „Because it’s 2016“ – Ein Projekt der Vodafone Stiftung in Kooperation mit der Deutschen Journalistenschule.

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