Glosse: Allein unter Spielern

Feldforschung, erstes Spiel. Mein Forschungsvorhaben: Die Spezies der sogenannten Fußballbegeisterten untersuchen. Bis jetzt sind sie mir völlig fremd. Für diese Mission begebe ich mich in die Tiefen des Urwalds, genauer: des Grünwalds.

Die Untergruppe „Fans“ zeigt sich mir gegenüber verschlossen. Auch die Spezies der Spieler ist in ihrem Sozialverhalten abgesondert. Sie tummeln sich im Rudel auf dem grünen Platz in der Lichtung des Gründwalds. In den nächsten zwei Stunden will ich mehr über die Fußballbegeisterten lernen, ihr Verhalten, ihre Bräuche, ihre Rituale verstehen.

Erste Minute. Die Spieler des FC Bayern und der Spvgg Greuter Fürth laufen in die Lichtung ein. Anstoß! Sofort beginnen die Fanvölker der Red Munichs, Amatörheads und Red White Ants mit einem von Trommeln angefeuerten Sprechgesang „Bayern Amateure!“ Fünf Mal wiederholt, wechseln die Fans den Brunftschrei: Gleiche Worte, andere Melodie. Die Spezies geht mit ihrem geringen, beinahe primitiven Wortschatz erstaunlich kreativ um.

Fünfte Minute. Was machen eigentlich die Stammesmänner mit den Fähnchen am Rande des Spielfelds? Wollen sie auch mitspielen? Sie dürfen immer nur an den Ball, wenn er über die weiße Spielfeldlinie rollt. Den Jünglingen steht der Initiationsritus, der sie zu Spielern macht, scheinbar erst noch bevor.

Zwölfte Minute. In einem spielerischen Kampfritual wird ein Spieler zu Boden gestoßen. Er gehört dem Stamm der Greuther an. Indem er sich auf dem Rücken hin und her rollt, demonstriert er dem Aggressor seine Unterwürfigkeit.

Vierzehnte Minute. Ich bemerke, dass die beiden Männer mit den dicken Handschuhen gar nicht richtig mitspielen dürfen. Etwas hilflos und verloren scheinen sie, während sie vor den Toren stehen. Ob sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden?

Achtzehnte Minute. „Schauspielerei“, kommentiert meine Nebensitzerin emotionslos, als sich ein Greuther Fürther am Boden windet. Empathie für die einzelnen Spieler scheint unter den Zuschauern nicht vorhanden zu sein. Der Dschungelarzt eilt heran und entfernt den Spieler aus der Lichtung.

Einundzwanzigste Minute. Wieder ein Foul! Was ist denn los mit den Männern? Ich verstehe nicht, wieso sie sich derart um diesen einen Ball kloppen. Ich habe nachgerechnet – mein Budget ließe es zu, jedem der 22 Buschmänner einen solchen Lederball zu kaufen. Dann würden die Rangeleien endlich aufhören.

Achtundzwanzigste Minute. Unermüdlich stimmen die Stammesvölker der Fans neue Gesänge an. Durch rhythmisches Klatschen versetzen sie sich in einen ekstatischen Zustand der Euphorie.

Achtunddreißigste Minute. Mir fällt auf, dass die Spieler Schuhe in leuchtenden Signalfarben tragen: Neongelb, Glutorange, Palmgrün. Vermute, dass die Männchen damit Weibchen anlocken wollen. Blöd nur, dass sich kaum werbenswerte Weibchen im Stadion befinden.

Zweiundvierzigste Minute. EIn Spieler der Spezies Greuther Fürth schießt den Ball ins Tor!

Halbzeitpause. Die Spieler verlassen den Platz. Zeit, sich unter das Fanvolk zu mischen. Um mich ihren Bräuchen anzupassen, bestelle ich ein Bier. Trotzdem schaffe ich es nicht, Kontakt mit der Spezies aufzubauen. Wortlos warten sie auf ihre Bratwürste oder den Glühwein aus Pappbechern.

Zweite Halbzeit, einundfünfzigste Minute. Nach einem weiteren Foul kommt es zur Rudelbildung. Die Stammesmänner rotten sich zusammen, drohen mit wilden Gebärden den Gegnern. Der Mann im gelbschwarzen Gewand zeigt manchen Spielern, was er für schöne Karten dabei hat. Wie nett.

Achtundfünfzigste Minute. Schon wieder ein Foul! Die Gemüter sind erhitzt, jetzt prügeln sich die Spieler fast. Zivilisiertes Verhalten ist bei dieser Spezies noch nicht entwickelt. Vorhaben für die weitere Feldforschung: Den ungezähmten Burschen Manieren beibringen.

Zweiundsechzigste Minute. Mir wird klar, dass die Tore gewechselt haben. Die Spezies der Spieler tut alles dafür, außenstehende Beobachter zu verwirren. Was versprechen sie sich davon?

Siebzigste Minute. Die Spezies Fans scheint eine eingeweihte Truppe zu sein. So weiß mein Nebensitzer von geheimen Tricks und Machenschaften der spielerischen Auseinandersetzungen, die mir als Außenstehender verborgen bleiben: Wer eine rote Karte bekommt, wird nicht ausgewechselt. In dieser präzivilen Gesellschaft herrschen drakonische Strafen.

Vierundsiebzigste Minute. Der Mann im gelbschwarzen Gewand scheint in der strengen Hackordnung am niedrigsten zu stehen. Er läuft mehr als alle anderen, darf jedoch nie an den Ball.

Einundachzigste Minute. „Die beißen ganz schön“, sagt der Nebensitzer, „die sind das gewohnt, härter angepackt zu werden.“ Verteidigen der Rangordnung mit Hilfe der Fangzähne – eine Art der Defensive, die mir bisher nicht bekannt war.

Siebenundachtzigste Minute. Wieder schießt ein Spieler vom Greuther Rudel ein Tor.

Neunzigste Minute. Das Spiel endet mit 2:0. „Schiri, du Arschloch“, schimpfen die Bayernfans.

Der erste Teil der Feldforschung ist abgeschlossen. Entsetzt über die Brutalität des Rudels verlasse ich den Grünwald und breche das Experiment ab. Die Spezies der Fußballbegeisterten werde ich nie verstehen.

Foto: wgbieber (CC0 1.0)

Facebooktwittermail

Schreibe einen Kommentar