Die Weiße Seite

Die Weiße Seite analog
Die Weiße Seite analog (Fotos: Anett Selle)

Die Künstlerin hat ihr Werk analog und digital verfügbar gemacht. Dass es zum Teil sogar gratis erhältlich ist, machte eine rasche Verbreitung von Anfang an wahrscheinlich. Der Erfolg gibt ihr Recht. Höchste Zeit, ihre Arbeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Je mehr man kritisiert, umso mehr liebt man. (frei nach Balzac)

Die Maße des Rezensionsexemplars sind übersichtlich: 21 mal 29,7 cm. Ein Blatt A4 in Weiß. Weiß, Weiß, Weiß und, naja, ehrlich gesagt war es das auch schon. Der Auftrag, diese Arbeit zu rezensieren, kam überraschend. Aber junge Journalisten dürfen nicht wählerisch sein. Und etwas muss schließlich dran sein, an dem Anblick, dem tausende von Menschen täglich ihre Aufmerksamkeit schenken.

Die Weiße Seite digital
Die Weiße Seite digital

Leider zieht schon nach wenigen Minuten Langeweile auf. Es scheint doch ziemlich eintönig, dieses Weiß. Ein Verriss wäre jetzt schnell gesponnen: Skandal! Inhaltslos! Banal! Enttäuschung bereitet den Weg des harten Urteils.
Aber nein, so leicht darf man es sich nicht machen. Also nochmal von vorne. Das Weiß. Was will die Künstlerin damit ausdrücken? Versprechen, Herausforderung, die Einladung zu einer Tabula-rasa-Raserei? Möglichkeiten, zweifellos. Immerhin hat sie hier Platz geschaffen, der im Alltag immer rarer wird. Einen Platz für Ideen, für Leben, für Abenteuer ohne Konsequenzen. Eine Einladung zum Experimentieren: Krakeln, ein paar Striche malen, den Raum füllen. Was spricht schon dagegen, dieses Exemplar zu ruinieren? Es ist kein Unikat – niemand würde es vermissen.

Doch Weiß bleibt Weiß. Finger zucken nervös, ziehen sich zurück. Hände suchen Halt, fernab von Stift und Tastatur. Ein Frösteln krabbelt den Rücken hinauf. Weiß ist oben, Weiß ist unten, Weiß ist überall. Ein hektischer Griff; da hilft nur noch Augen schließen. Lachhaft, sich so anzustellen. Die Künstlerin überrascht mit ihrer Feinfühligkeit. Erst wird gelockt, dann konfrontiert sie, nein, sie spielt mit der Angst des Betrachters, der die leeren Weiten unendlicher Räume vor sich ausgebreitet sieht.

Am Ende bleibt Ehrfurcht. Und die Gewissheit, dass hier ein großer Wurf gelungen ist. Denn Weiß, was ist das anderes als alle Farben? Dieses Blatt, das Kunstwerk, zeigt die Farben der Welt. Es ist wertvolle Literatur und Gemälde, so abstrakt wie konkret enthält es mehr, als Augen aufnehmen können. Es ist perfekt. Was für ein Glück, dass die Künstlerin wusste, wann sie aufhören musste.

Die Rezensente
Die Rezensente (Foto: DocMario, CC-BY)
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