Am Minimum

Altersarmut betrifft vor allem Frauen. Jahrzehntelang haben sie gearbeitet und Kinder großgezogen. Doch am Ende bleibt ihnen oft nur das Gnadenbrot.

Elisabeth Müller* liegt seit drei Monaten im Reha-Zentrum in Bad Aibling. Sie hat mehrere Operationen an der Wirbelsäule hinter sich. Gehen kann sie noch nicht, ist auf den Rollstuhl angewiesen. Wenn die 69-Jährige in wenigen Tagen nach Hause kommt, wird niemand da sein, der sie empfängt. Keine Verwandten, keine Freunde. Und der Kühlschrank wird leer sein. Weil niemand für sie eingekauft hat – und weil kaum Geld da ist, etwas zu kaufen. Zum Leben reicht ihre Rente nicht aus, sie ist auf finanzielle Unterstützung vom Staat angewiesen.

„Ohne die Tafel hätte ich mich vielleicht schon erschossen“, sagt Elisabeth Müller leise. Sie meint die Gautinger Tafel. Der gemeinnützige Verein sammelt Lebensmittel, die Supermärkte wegwerfen müssen, verteilt sie jeden Mittwoch an bedürftige Menschen.

Müller erhält eine Grundsicherungsrente. Damit soll ihr Lebensunterhalt gewährleistet werden. Einen Teil der Miete muss sie selbst übernehmen, weil ihre Wohnung mit 63 Quadratmetern zu groß ist. Abzüglich Strom, Telefon und verschiedener Versicherungen hat sie monatlich 200 Euro zur Verfügung. „Da bleibt nichts mehr für Luxus. Aber man wird ja bescheiden im Alter.“

Im Jahr 2014 waren in Deutschland 3,4 Millionen Rentner arm

Elisabeth Müller mag sich vielleicht allein fühlen, in Deutschland teilen jedoch immer mehr Menschen ihr Schicksal. Der Paritätische Wohlfahrtsverband belegt das in seinem Armutsbericht. Danach waren 3,4 Millionen Rentner in Deutschland im Jahr 2014 arm. Die Armutsgefährdungsquote dieser Bevölkerungsgruppe lag bei 15,6 Prozent. In keiner anderen Gruppe stieg die Quote in den letzten Jahren so stark an. Nach EU-Definition gilt als arm oder armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. In Deutschland liegt die Schwelle für Alleinstehende bei 917 Euro im Monat.

Bei Rentnern werden alle Einkünfte gezählt, nicht nur die Renten selbst. Bedenklich ist auch die Zahl der älteren Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Grundsicherungsrente soll Menschen helfen, deren Lebensunterhalt auf Dauer nicht sichergestellt ist. Sie ist jährlich neu zu beantragen. 2014 wurden bereits 512 000 ältere Menschen unterstützt. Zum Vergleich: 2005 waren es noch 343 000. Seit Anfang 2016 liegt die Grundsicherungsrente bei maximal 404 Euro monatlich.

„Meine Mutter wollte immer, dass ich einen Arzt heirate“

Dass sie irgendwann einmal Grundsicherung beantragen muss, das hätte Elisabeth Müller nie gedacht. Nach ihrer Mittleren Reife macht sie eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin. Drei Jahre lang geht sie auf die Doktorschule. 1984 lernt sie ihren Lebensgefährten, einen Künstler, kennen. Geheiratet haben sie nicht. „Meine Mutter wollte immer, dass ich einen Arzt oder einen Rechtsanwalt heirate.“ Sie schmunzelt: „Aber ich bin ja romantisch.“

Neun Jahre später dann der Schock. Ihr Lebensgefährte muss nach einer Wirbelsäulenoperation daheim gepflegt werden. Müller entschließt sich, nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter zu pflegen, die an Parkinson und Demenz erkrankt ist. Beide müssen täglich gebadet werden, das ruiniert ihr das Kreuz. Mehr als zehn Jahre kümmert sie sich um die beiden, bis 2006 erst die Mutter des Lebensgefährten stirbt und kurz darauf er selbst. Kinder hat Elisabeth Müller nicht. Mit 24 bekam sie Unterleibskrebs, 2002 Brustkrebs. „Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe“, seufzt sie. Nun ist sie eine Schmerzpatientin ohne Geld.

Nach dem Gender Pay Gap kommt der Gender Pension Gap

Altersarmut betrifft vor allem Frauen. Nach dem Gender Pay Gap – demnach verdienen Frauen noch immer etwa 22 Prozent weniger als Männer – kommt der Gender Pension Gap. Dieser bezeichnet die Rentenlücke zwischen Frauen und Männern im Alter. Forscher am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung untersuchten diese Ungleichheiten in ihrem Report. Dabei fanden sie heraus, dass eine Frau im Jahr 2011 durchschnittlich nur 43 Prozent der Rente eines Mannes erhielt. Damit betrug die Rentenlücke zwischen den Geschlechtern 57 Prozent.

In die Berechnung gingen alle drei Säulen der Altersvorsorge ein: gesetzlich, betrieblich, privat. Einen genaueren Blick warfen die Forscher auf die gesetzliche Rentenversicherung. Die durchschnittliche Rente von Frauen im Alter lag im Jahr 2014 bei monatlich 618 Euro netto. Zum Vergleich: Männer bezogen monatlich durchschnittlich 1037 Euro.

Die Mütterrente soll einen Ausgleich schaffen

Um diese Ungerechtigkeiten auszugleichen, verabschiedete der Bundestag im Jahr 2014 die sogenannte „Mütterrente“. Mit ihr soll die Erziehungsarbeit von Frauen und Männern, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, besser anerkannt werden. Bis zu dem Zeitpunkt wurde für sie nur ein Jahr Kindererziehungszeit berücksichtigt, jetzt können sie zwei Jahre anrechnen lassen. Diese Eltern erhalten nun monatlich 29,21 Euro brutto (alte Bundesländer) beziehungsweise 27,05 Euro (neue Bundesländer) zusätzlich pro Kind.

„Die Mütterrente ist ein Ausgleich für die Jahre, in denen Frauen ihre Kinder großgezogen haben. Sie hatten oft keine Möglichkeit, dabei selbst etwas für ihr eigenes Alter zu verdienen“, sagt Christa Merkle (84), Kassenprüferin der Gautinger Tafel. Wenn Mütter jedoch gleichzeitig Grundsicherung beziehen, ist dieser Ausgleich nur gering. „Bei der Grundsicherungsrente verpufft dieser Effekt fast komplett“, sagt Merkle. Sie selbst hat drei Kinder, erhält die volle Mütterrente. Doch viele ihrer Freundinnen beziehen Grundsicherung und haben deshalb nur wenig von der Mütterrente.

Gerade einmal acht Euro mehr durch die Mütterrente

Wie im Fall von Käthe Baumann* (85). Sie soll eigentlich von der Mütterrente profitieren. Ihr ganzes Leben hat sie als Landwirtin gearbeitet, zwei Kinder zur Welt gebracht. Ihr Mann ist bereits verstorben. Da ihre Rente zu gering ist, bekommt sie, wie Elisabeth Müller, Grundsicherungsrente. Vor der Mütterrente erhielt Käthe Baumann, zusammen mit der Grundsicherung, insgesamt eine Rente von monatlich 753 Euro netto. Abzüglich Miete gingen 393 Euro auf ihr Konto. Mit der Mütterrente hat sie gerade einmal acht Euro mehr im Portemonnaie.

Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland, fordert daher: „Das Mehr an Rente muss auch für Frauen spürbar sein, die so wenig Rente bekommen, dass sie auf Grundsicherung angewiesen sind. Sie haben im Moment nichts von der Mütterrente, weil sie auf die Grundsicherung angerechnet wird.“

„Armut ist in Deutschland viel zu häufig weiblich“

Doch wieso braucht es überhaupt Maßnahmen, um die Altersrente von Frauen und Männern anzugleichen? Die WSI-Forscher nennen fünf Gründe, die für die Rentenkluft verantwortlich sind: Frauen sind seltener berufstätig als Männer. Sie arbeiten häufig nicht Vollzeit. Dazu kommen die niedrigen Entgelte sowie die häufigen und langen Erwerbsunterbrechungen, zum Beispiel durch Kinderbetreuung. Zuletzt verweisen die Forscher auf die Minijobs, die nicht sozialversichungspflichtig sind und gerade von Frauen oft angenommen werden.

„Armut ist in Deutschland viel zu häufig noch weiblich“, sagt Mascher. Sie kritisiert: „Was im Erwerbsleben schon oft nicht zum Leben reicht, ist in der Rente dann dramatisch. Die Rente ist eben ein nüchternes Abbild der Erwerbsbiografie und nimmt kaum Rücksicht darauf, dass ein Frauenleben meistens anders verläuft als das eines fiktiven, männlichen ‚Eckrentners‘, der für eine Vollzeittätigkeit 45 Jahre lang ein Durchschnittseinkommen erzielt hat.“

Die Gautinger Tafel nimmt keine Bewerber mehr auf

Brigitte Neumeier* (84), Bilanzbuchhalterin, hat insgesamt 43 Jahre gearbeitet. Drei Kinder brachte sie zur Welt. Ihr Gehalt lag am Schluss bei über 4000 Mark – für 3,5 Arbeitstage. Trotz Rentenerhöhung sowie Mütterrente liegt ihre Rente heute bei lediglich monatlich 973 Euro netto. Abzüglich Miete, Strom, Sterbeversicherung, TV, Telefon, Internet, Johanniter, Medikamente, Versicherungen sowie Haushalt bleiben ihr 117 Euro. Davon muss Neumeier von Bekleidung, Anschaffungen und Reparaturen bis hin zu kulturellen Ausflügen alles bezahlen. „Geschenke für Enkel sind reinster Luxus“, sagt sie. Ihr Leben bewegt sich zwischen Hungerrente und Gnadenbrot.

Damit Rentner, die Grundsicherungsrente beziehen, ein wenig sorgenfreier leben können, gibt es die Gautinger Tafel. Für ihre Vorsitzende, Monika Fliedner, ist das Helfen mittlerweile ein ehrenamtlicher Vollzeitjob geworden – aber eine „Herzenssache“. Die Tafel unterstützt rund 100 Bedürftige. Einige, die nicht mehr selbstständig zur Essensausgabe kommen können, werden beliefert. „Alles, was wir machen, ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Fliedner. Seit September 2015 kann die Tafel keine weiteren Bewerber aufnehmen, die Warteliste ist lang.

„Ich habe das Beten aufgehört“

Um zu vermeiden, dass Frauen und Männer im Alter auf die Hilfe von Tafeln angewiesen sind, verweisen die WSI-Forscher auf drei Punkte, die sich ändern müssen: 1. Die Erwerbschancen für Frauen müssen generell steigen. 2. Familie und Beruf müssen sich künftig besser vereinbaren lassen und 3. Das Rentenniveau darf nicht weiter sinken.

Christa Merkle und Monika Fliedner sehen die Lösung der Rentenkluft nicht in gesetzlichen Maßnahmen. Es sei eine Kopfsache, die Gesellschaft müsse erzogen werden. Männern solle man beibringen, dass gleiche Arbeit auch gleicher Verdienst bedeute. Und auch den Frauen müsse klargemacht werden, dass sie keine unterbezahlten Stellen annehmen sollten. „Aber was ist mit denen, die davon nicht mehr profitieren können?“, fragt sich Merkle. „Viele der Frauen, die in Altersarmut leben, sind auch noch Kriegswitwen oder haben ihre Ehemänner durch die Kriegsnachfolgen früh verloren“, sagt sie.

Elisabeth Müller hat ihren Optimismus verloren. „Ich habe das Beten aufgehört“, erzählt sie über ihre Zeit im Reha-Zentrum. Wenn sie heimkommt, wird morgens und abends der Pflegedienst für 15 Minuten nach ihr sehen. Irgendwann, so hofft sie, wird sie wieder eigenständig laufen können. Doch selbst dann lebt sie am Minimum.

*Namen geändert

Illustration: Lotte Düx

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